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Aşık - Tekke Literatur (Volksgesang - mystische Dichtung)
Feiertage - Zeremonien - Feierlichkeiten
Musikkultur in der Türkei und Beispiele
Kleidung, traditionelle Kunst und Kunsthandwerk, naive Malerei
Bauart, Beheizung und Beleuchtung
Wendepunkte des Lebens
Geburt
Von den wichtigen Übergangsperioden wurde die erste, die Geburt, fast zu
jeder Zeit als glückliches Ereignis angenommen. Jedes Kind, das zur Welt
kommt, erfreut nicht nur die Eltern, sondern gleichzeitig auch die
Verwandten, die Nachbarn und alle Familienangehörigen. Denn mit jeder Geburt
wird die Zahl des Familienstammes erhöht. Eine Steigerung der Zahl des
Familienstammes bedeutet gleichzeitig auch eine Steigerung der Macht und
Solidarität. Das gebräuchliche Wort „Çocuk, ailede ocağı tüttürür“ bedeutet
soviel wie: “Ein Kind lässt den Ofen der Familie rauchen” oder: "Ein Kind
führt den Familienstammbaum weiter", hebt ganz offen die Werthaltung der
Gesellschaft zu diesem Thema hervor.
Auf der anderen Seite bedeutet Geburt auch, dass die Achtung der Frau
gegenüber steigt und ihr Platz in der Familie, in der Verwandtschaft und in
der Gruppe gefestigt wird. Wie eine unfruchtbare Frau von Nahestehenden
aufgrund ihrer Nicht-Gebärfähigkeit herablassend behandelt wird, so erlebt
auch der Mann in gleicher Weise den Druck seines Umfeldes und verspürt
gesellschaftliches und psychisches Angestoßensein dadurch, dass er nicht als
ganzer Mann betrachtet wird.
Das Ereignis der Geburt, das den Beginn des Lebens darstellt, der Mutter
Ganzheit und Identität, dem Vater Selbstsicherheit und den Verwandten Kraft
verleiht, ist sowohl für das betreffende Paar als auch für deren
Nahestehenden von großer Bedeutung. Die Geburt und ihre verschiedenen Phasen
werden von einigen Übergangszeremonien und Gebräuchen begleitet.
Nachdem die Geburt ein Übergang ist, verlangen Tradition und Glauben von der
Frau bereits vor der Geburt, ja sogar beginnend mit dem Kindeswunsch, die
Anpassung an einige bestimmte Bräuche und deren Ausführung. So steht die
Geburt, beginnend mit dem Schwangerschaftswunsch, unter dem Einfluss
hunderter Gebräuche, religiöser und abergläubischer Sitten, ja, man kann
sogar sagen, dass die Geburt von diesen Sitten und Gebräuchen geleitet wird.
Die Traditionen, Bräuche und Glaubensauffassungen in Anatolien bezüglich der
Geburt können unter drei Aspekten untersucht werden:
- Vor der Geburt
- Geburt
- Nach der Geburt
1. Vor der Geburt
Die Traditionen, Gebräuche und Glaubensauffassungen vor der Geburt
konzentrieren sich um die Themen Aufhebung der Unfruchtbarkeit, Schwanger
werden, Periode der Gelüste, Schwangerschaft, Erkennen des Geschlechtes des
Kindes sowie vermeidende Verhaltensweisen während der Schwangerschaft.
Aufhebung der Unfruchtbarkeit, Schwanger werden
In der Vergangenheit wurde in unserer Gesellschaft die Schuld der
Nichtzeugung eines Kindes meist bei der Frau gesucht. Diesbezügliche
Methoden und Praktiken richteten sich vor allem auf sie. Zu unterscheiden
sind dabei:
- Religiöse und abergläubische Methoden
- Methoden der Volksmedizin
- ärztliche Behandlung
Sollte der Kindersegen für ein Paar ausbleiben, werden heutzutage Mann und
Frau gemeinsam untersucht und entsprechend behandelt. Obwohl auch
gegenwärtig noch manchmal auf traditionelle Praktiken zurückgegriffen wird,
stehen die Methoden der modernen Medizin sowohl am Land als auch in der
Stadt im Vordergrund.
Periode der Gelüste
Wenn die Frau in die Phase der Gelüste kommt, vermeidet sie manche Dinge,
besonders manche Objekte und Nahrungsmittel oder aber im Gegenteil verspürt
sie den Drang bestimmte Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Diese
Verhaltensweisen dienen im Prinzip dazu, gewissen Mangelerscheinungen an
bestimmten Stoffen physiologisch entgegenzutreten.
Frauen in dieser Phase werden im Allgemeinen dazu gedrängt, scharfe, saure
oder stark gewürzte Speisen zu vermeiden. Diese sehr gebräuchliche Haltung
kommt in dem Wortspiel „ye ekşiyi doğur Ayşe’yi“, das bedeutet soviel wie:
“Iss Saures und gebäre Ayşe (ein Mädchen)” zum Ausdruck. Hat die schwangere
Frau jedoch Vorliebe für süße Speisen und Getränke, so wird dies als Zeichen
dafür gesehen, dass ein Sohn geboren wird. Diese Situation wiederum wird mit
dem Wortspiel „ye tatlıyı doğur atlıyı“, was soviel bedeutet wie: “Iss Süßes
und gebäre einen Reiter (Sohn)” zur Sprache gebracht.
Schwangerschaft
Die Frau wird sowohl in der Schwangerschaft als auch in der Zeit als
Wöchnerin als Kranke angesehen und erfährt eine dementsprechende Behandlung.
Man kann es auch so ausdrücken, dass die schwangere Frau von der ihr
angehörigen Gruppe oder Religionsgemeinschaft in die Kategorie der „Kranken“
gesteckt wird und sie in dieser Sichtweise betrachtet wird. Es wird von der
Schwangeren erwartet, dass sie gemäß der passenden Wertvorstellungen und
Erwartungen handelt und eine dementsprechende Rolle übernimmt.
In Anatolien gibt es für eine schwangere Frau verschiedenste Bezeichnungen,
wie z.B. “yüklü” (eine Last tragende Frau), “iki canlı” (eine Frau, die zwei
Leben trägt), “gebe” (schwangere Frau), “ağır ayak” (eine Frau mit schweren
Schrittes), “koynu dolu” (Frau mit vollem Busen), “guzlacı” (schwanger (eigentlich
Bezeichnung für ein trächtiges Tier)).
Geschlecht des Kindes
Eines der wichtigsten Themen in der Schwangerschaft ist das Geschlecht des
Kindes, wobei verschiedene Vermutungen angestellt werden.
In Anatolien werden nachfolgende Aspekte betrachtet und bezüglich des
Geschlechts des Kindes Interpretationen angestellt:
- physiologischen Veränderungen der Frau
- Lebensmittel, die die Frau zu sich nimmt
- Verhaltensweisen der Frau
- Zeitspanne der Bewegungen des Kindes im Mutterbauch
- Art der eintretenden Wehen
Heutzutage allerdings werden anstelle dieser traditionellen Vermutungen
vermehrt Methoden der modernen Medizin herangezogen, um das Geschlecht des
Kindes festzustellen.
Vermeidungen und empfohlene Verhaltensweisen für schwangere Frauen
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ab dem Zeitpunkt der Zeugung des
Kindes, das Kind von allen Verhaltensweisen der Mutter beeinflusst wird. In
den traditionellen Gesellschaftsschichten Anatoliens werden die
Glaubensauffassungen zu diesem Thema nach wie vor aufrechterhalten.
Nach diesen Glaubensauffassungen muss die Frau darauf Acht nehmen, manche
Verhaltensweisen zu vermeiden, andere wiederum durchzuführen.
Nachstehend werden einige Verhaltensweisen aufgezählt, die während der
Schwangerschaft vermieden werden sollten:
- Der Blick auf einen Bären, Affen oder Kamel soll vermieden werden
- Fisch, Hase, Haxe und Kopf von Tieren soll nicht gegessen, Kaugummi nicht
gekaut werden
- Die werdende Mutter soll nicht an einem Begräbnis teilnehmen und nicht auf
eine Leiche blicken
- Verbotenes darf nicht heimlich gekauft und gegessen werden.
Neben den hier aufgezählten Anwendungen gibt es auch einige, die denselben
Ausgangspunkt haben, allerdings als positive Verhaltensweise beurteilt
werden.
So sind z.B. Verhaltensweisen, die von der schwangeren Frau erwünscht sind,
folgende:
- Den Mond am Himmel ansehen
- Schöne Menschen ansehen
- An Rosen riechen
- Das Essen von Quitten, Äpfel, grünen Pflaumen, Weintrauben.
2 . Geburt
Bei der Landbevölkerung Anatoliens wurden früher vorwiegend Hausgeburten mit
Hilfe der Dorfhebamme durchgeführt. Dabei kamen unterschiedlichste Praktiken
zur Anwendung, die vor allem das Ziel hatten, die Geburt zu erleichtern.
Beispiele dafür sind:
- Das Auflösen der gebundenen Haare der Gebärenden
- Das Öffnen von verschlossenen Türen, Fenstern und Truhen
- Das Streuen von Futter für Vögel
- Das Streicheln des Rückens der Gebärenden von einer Frau, die eine leichte
Geburt durchlebt hat
- Das Feuern von Waffen
- Das Schütteln des Rückens der Gebärenden
- Das Springen der Gebärenden von einer hohen Position
- Das Wiegen der Gebärenden, indem sie in ein Tuch gelegt wird.
Heutzutage wird die Geburt im Allgemeinen im Krankenhaus durchgeführt. In
weit entfernt liegenden Bergdörfern wird die Geburt mit Hilfe einer
diplomierten Hebamme vorgenommen.
3. Nach der Geburt
Die verschiedensten Praktiken nach der Geburt können in folgende Abschnitte
eingeteilt werden:
- Nabel des Kindes und Nachgeburt
- Wochenbett
- Glaubensauffassung des „Al karası“
- Glaubensauffassung des „Kırk basması“
- Vorgehen des „Kırklama“
Nabel des Kindes und Nachgeburt
So wie nach den Glaubensauffassungen das Kind durch die zu sich genommenen
Lebensmittel der Mutter, deren betrachteten Personen, Tieren und Objekten
etc. beeinflusst wird, so gilt diese Glaubensauffassung auch für den Nabel
und die Nachgeburt des Kindes.
Aus diesem Grunde wird der Nabel des Kindes auch nicht einfach weggeworfen,
denn dem Aberglauben zufolge beeinflusst er die Zukunft des Kindes und
dessen Beruf.
Einige Beispiele betreffend den Nabel sind untenstehend angeführt:
- Der Nabel wird in die Mauer oder den Hof einer Moschee begraben (damit das
Kind religiös wird).
- Der Nabel wird an die Mauer einer Schule oder in den Schulhof geworfen (damit
das Kind eine Schullaufbahn anstrebt).
- Der Nabel wird in einem Stall begraben (damit das Kind tierliebend wird).
- Der Nabel wird in Wasser geworfen (damit das Kind sein Glück außerhalb
sucht).
Die Nachgeburt wird mit Namen wie Freund, Partner, Wegbegleiter des Kindes
bezeichnet. Da die Nachgeburt als Teil des Kindes oder sogar als das Kind
selbst betrachtet wird, wird diese in ein sauberes Tuch gewickelt und an
einem reinen Ort begraben.
Da heutzutage die Geburt im Krankenhaus vollzogen wird, sind die Anwendungen
bezüglich der Nachgeburt fast gänzlich verschwunden. Die Praktiken und
Anwendungen bezüglich des Nabels hingegen werden nach wie vor
aufrechterhalten.
Wochenbett
In Anatolien wird eine Frau, die ein Kind geboren hat, als Wöchnerin
"loğusa" (ähnliche Bezeichnungen: lohsa, emsikli, loğsa, nevse, kırklı)
bezeichnet. Die Zeit, die eine Frau nach der Geburt im Bett verbringen soll,
ist abhängig vom physiologischen Zustand der Frau, von der Schwere der
Geburt, vom Klima, von den Umweltbedingungen, von der wirtschaftlichen
Situation der Familie und von der Anerkennung der Frau seitens der Familie.
Es ist ein weit verbreiteter Aberglaube in Anatolien, dass die Frau während
der Phase des Wochenbettes im Einfluss von übernatürlichen Kräften steht.
Diese Glaubensauffassung wird durch die häufig von traditionellen
Gesellschaftsschichten verwendete Redewendung deutlich hervorgehoben:
“kırklı kadının kırk gün mezarı açık olur” (Das Grab einer Wöchnerin bleibt
vierzig Tage offen).
Glaubensauffassung des "Al karısı"
Eine abergläubische Vorstellung während der Wochenbettzeit ist die des
Geistes “Al karısı”. Dieses Wesen kann die Wöchnerin und das Neugeborene
verfolgen und belästigen, manchen Vorstellungen zufolge sogar töten. Weitere
Bezeichnungen für diesen Geist sind u. a. “al”, “cazı”, “cadı”, “al anası”,
“al karası”, “koncoloz”, “goncoloz”, “kara koncoloz”.
Um die Wöchnerin und das Neugeborene vor diesem “al karısı”, das sich nach
den Vorstellungen zufolge im Stall, in Mühlen, an verlassenen Orten, an
Wasserquellen und Brunnen und an Plätzen, an denen die Wöchnerin und das
Kind allein gelassen werden, aufhält, zu schützen, werden einige
Vorkehrungen getroffen.
Beispiele dieser Vorkehrungen:
- An dem Ort, an dem sich die Wöchnerin und das Neugeborene aufhält, werden
Besen, der Koran, Zwiebel, Knoblauch und Talismane aufgehängt.
- Unter den Polster der Wöchnerin und des Neugeborenen wird eine Nadel
gelegt.
- Unter den Polster der Wöchnerin und des Neugeborenen werden eine Sichel,
ein Dolch, ein Messer oder ähnliche Schneidgeräte gelegt.
- An dem Ort, an dem sich die Wöchnerin und das Neugeborene befinden, werden
Brotkrümel gestreut und Wasser hingestellt.
Obwohl diese Praktiken in der Gegenwart immer weniger angewendet werden,
sind sie nach wie vor existent.
Glaubensvorstellung des "Kırk Basması" (Erreichung des vierzigsten Tages)
Das anatolische Volk bezeichnet die ersten vierzig Tage der Wöchnerin und
des Neugeborenen, die während dieser Zeit besonders vor Krankheiten
geschützt und für die nachfolgende Zeit auf eine positive Entwicklung
vorbereitet werden, als “kırk basması” (Erreichung des vierzigsten Tages).
Weitere Bezeichnungen sind: “kırk düşmesi”, “kırk karışması”, “loğusa
basması”, “aydaş”.
Es ist ein weit verbreiteter Glauben, dass während dieser Periode von
vierzig Tagen Lebewesen und Objekte der Wöchnerin und dem Neugeborenen
Schaden zufügen können. Um diese zu verhindern kommen einige Praktiken zur
Anwendung:
- Die Mutter und das Neugeborene verlassen vierzig Tage lang nicht das Haus.
- Es wird Wert darauf gelegt, dass die Wöchnerin und das Neugeborene nicht
miteinander verglichen werden.
In Anatolien herrschte die Auffassung vor, dass während dieser Periode
vorkommende unerwünschte Ereignisse, Gründe für das Zurückbleiben der
Entwicklung des Kindes oder dessen Gewichtsabnahme seien. Um dies zu
verhindern wurden religiöse und abergläubische Praktiken angewandt.
Heutzutage trifft man diese Praktiken jedoch kaum noch an.
“Kırklama" Vorgehen
Um die Wöchnerin und das Neugeborene vor Erkrankung während der ersten 40
Tage zu schützen und aus dieser Periode gesund hervorzugehen, wird eine als
“kırklama” bezeichnete Praktik angewandt, das eine Form des Waschens der
Wöchnerin und des Kindes darstellt. Das Volk bezeichnet dieses verbreitete
Vorgehen auch als “kır dökme” oder “kırk çıkarma”.
Im Allgemeinen wird diese Anwendung am vierzigsten Tag nach der Geburt
vorgenommen. Allerdings gibt es dabei regionale Unterschiede und es kann
sowohl am 7., 20., 30., 37., 39. oder 41. Tag diese Waschung durchgeführt
werden. Obwohl es in der Form auch regionale Unterschiede gibt, so verfolgen
alle jedoch das gleiche Ziel.
Unter den Bräuchen und Praktiken rund um die Geburt ist das “kırklama” eine
der Methoden, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart
nichts an ihrer Gebräuchlichkeit eingebußt haben.
Kindheit
Nach der Geburt gibt es eine Reihe von Regeln, Bräuchen, Zeremonien und
Praktiken, im Rahmen derer die Entwicklung des Kindes innerhalb seiner
Beziehung zu seinen Eltern, den übrigen Familienangehörigen und der Umwelt
verfolgt wird. Der Schutz des Kindes, sein Aufwachsen und seine Anpassung an
die umgebende Gruppe bzw. kulturelle Umgebung sowie Wertvorstellungen sind
durch verschiedene Phasen gekennzeichnet. Die diesbezüglich durchgeführten
Praktiken, Sitten und Zeremonien werden teilweise ihrer Wichtigkeit und
Reihenfolge entsprechend streng eingehalten, teilweise werden sie allerdings
auch sehr flexibel betrachtet.
Namensgebung
Eine der ersten Traditionen ist die Namensgebung. Eine Person, ein Objekt,
eine Situation oder ein Ereignis nicht mit einem Namen zu bezeichnen oder
mit einem Attribut zu bestimmen, ruft Beunruhigung und Verunsicherung hervor.
Die Namensgebung eines Kindes erfolgt in traditionellen
Gesellschaftsschichten allgemein mit einer religiösen Zeremonie. Obwohl
diese Tradition an Einfluss verliert, kann diese religiöse Handlung an
verschiedenen Orten nach wie vor beobachtet werden.
Da die Namensgebung keine alltägliche Handlung ist, wird sie – wenn auch in
kleinem Umfang – feierlich und religiös durchgeführt. Der Name wird in einer
Namensgebung- Zeremonie dem Kind verliehen. Der zu diesem Zwecke gerufene
Geistliche oder Person, die für ihre Religiosität bekannt ist, liest den
Gebetsruf und flüstert dem Kind drei Mal seinen Namen ins Ohr. Der Name kann,
sollte kein Geistlicher anwesend sein, auch vom Vater oder Großvater des
Kindes in gleicher Weise vergeben werden.
Eine ebenfalls sehr gebräuchliche Tradition unter dem Volk ist die
Verleihung eines so genannten “göbek adı” (Nabel-Name). Dieser eigene Name
wird dem neugeborenen Kind bei der Abnabelung gegeben.
Die Verleihung des so genannten „göbek adı“ hat unterschiedliche, vorwiegend
religiöse Gründe. Einige davon sind nachstehend aufgelistet:
- Das Kind wird in der Grabstätte mit dem „göbek adı“ gerufen
- In der anderen Welt wird der „göbek adı“ verwendet
- Bei der Vorsprache eines Geistlichen nach der Bestattung (Besonderheit in
dem Islamische Religion; damit der Tote den ihn verhörenden Engeln antworten
kann) wird dieser „göbek adı“ verwendet.
Neben dem eigentlichen Namen wird dem Kind besonders von den Nahestehenden
und der ihm angehörigen Gruppenmitglieder ein weiterer, leicht
aussprechbarer Name gegeben. Dieser wird als so genannter „takma ad“ (Rufname)
bezeichnet. Allerdings ist dieser Brauch vorwiegend in traditionellen
Gesellschaftskreisen, insbesondere in Dörfern anzutreffen.
Stillen
Sowohl in der modernen Medizin als auch in der traditionellen Kultur wird
die Muttermilch als die gesündeste Ernährung des Säuglings angesehen.
In der traditionellen Kultur wird mit dem ersten Stillen oder dem ersten
Milch geben solange gewartet, bis drei Gebetsrufe gelesen wurden. Mit dieser
Anwendung glaubt man, dass dadurch das Kind in seinem späteren Leben
geduldig wird. Die erste Milch der Mutter wird als „ağız“ bezeichnet. Diese
Erstmilch soll vom Säugling getrunken werden. Dem Aberglauben zufolge sollen
Kinder, die keine Erstmilch getrunken haben, dünn und schwach werden.
Auffassungen traditioneller Kreise zufolge, sollen männliche Säuglinge
länger gestillt werden als weibliche. Die Verhaltensweise ist auf den Wunsch
zurückzuführen, dass Jungen kräftiger und stärker als Mädchen werden sollen.
Feierlichkeiten zum „ersten Zahn“
Eines der wichtigsten Kennzeichen der biologischen Entwicklung des Kindes
ist das Hervorbrechen des ersten Zahnes. Dieses Ereignis wird im Allgemeinen
mit einer Zeremonie gefeiert. Bei dieser Zeremonie und Feierlichkeit wird
das Hervortreten des Zahnes, der eine wichtige Rolle bei der Zermalmung der
Lebensmittel darstellt, gefeiert, wobei Lebensmittel gesegnet werden sowie
Wünsche für Wohlstand und guten Lebensunterhalt des Kindes ausgesprochen
werden. Weiters stehen hier auch traditionelle Praktiken im Mittelpunkt, die
für gesunde und wohlgeformte Zähne des Kindes angewendet werden.
Die Bezeichnung dieser Zeremonie und des Festes ist von Region zu Region
verschieden. Gebräuchliche Namen dafür sind: „diş hediği“, „diş aşı“, „diş
bulguru“, „diş buğdayı“.
Gehen lernen des Kindes
Eine weitere wichtige physiologische Phase in der Kindesentwicklung ist das
Gehen lernen. In der Vergangenheit wurden verschiedenste Methoden und
Praktiken angewandt, wenn das Gehen innerhalb des normalen Zeitrahmens nicht
erlernt wurde oder wenn das Kleinkind häufig hinfiel.
Angewandte Methoden waren zum Beispiel:
- Das Streichen eines Eies auf die Fersen des Kindes
- Das Waschen des Kindes in salzhaltigem Walnussblattwasser
- Das Besuchen verschiedenster Wallfahrtsorte mit dem Kind.
Das erste Schneiden der Nägel des Säuglings
In Anatolien sind auch Methoden und Praktiken sehr verbreitet, die
angewendet werden, wenn das erste Mal die Nägel des Säuglings geschnitten
werden. Die gebräuchlichste Methode ist folgende: Nach dem ersten Schneiden
der Nägel des Säuglings wird die Hand in ein mit Geld gefülltes Säckchen
gesteckt. Sollte das Kind ein Junge sein, wird das Geld, das es in der Hand
hält, als Anlage für seine zu gründende Arbeit im Erwachsenenalter
zurückgelegt. Bei einem Mädchen wird das Geld als Aussteuer aufbewahrt.
Die Tradition der Beschneidung
In Anatolien ist eine der wichtigsten und
gebräuchlichsten Tradition bezüglich Kinder die Beschneidung. Diese stellt
auch gleichzeitig die strengste und gebräuchlichste Tradition der religiösen
und sittlichen Gebräuchen dar. Keine Eltern möchten diese Tiefverwurzelte
Tradition übergehen. Diese Tradition gleicht einer Gesetzeskraft, die keine
Auflehnung entstehen lässt.
Das Wort “Sünnet” (Beschneidung) hat arabische Wurzeln und bedeutet in
seinem Kern “işlek yol” (betriebsamer Weg). In seiner weiteren Bedeutung ist
darunter die gute oder schlechte Verhaltensweise, die der Mensch aufgrund
seiner gewöhnlichen Situation zu Tage legt beziehungsweise der Weg Gottes zu
verstehen.
In der islamischen Religion bedeutet “sünnet” die Anpassung an die Praktiken,
die der Prophet ausführte oder lehrte. Die Gesellschaft zeigt bei
Abweichungen diesem Thema gegenüber fast keine Toleranz und Einsicht. Aus
diesem Grunde erleben Jugendliche, bei denen sich die Beschneidung aus
verschiedenen Gründen verzögerte, eine gewisse Unbehaglichkeit. Häufig
begegnen Jugendliche, bei denen die Beschneidung nicht zeitgemäß
durchgeführt wurde, einem abwertenden und kritisierenden Verhalten. Was die
Beschneidung betrifft, so kann – ebenso wie in der Vergangenheit – auch in
der Gegenwart die Gesetzeskraft dieses Tiefverwurzelten Brauches beobachtet
werden.
Die Tradition der Beschneidung wird vor allem unter unten angeführten
Aspekten betrachtet:
- Alter des Kindes für die Beschneidung und Zeitpunkt der Beschneidung
- Vorbereitung der Zeremonie oder so genannten “Beschneidungs-Hochzeit”
- Vorbereitung des Kindes
- Durchführung der Beschneidung und “Beschneider”
- Geschenke / Aufmerksamkeiten bei der Beschneidung
Alter des Kindes bei der Beschneidung / Zeitpunkt der Beschneidung
Bezüglich des Alters des Kindes bei der Beschneidung oder der Jahreszeit der
Beschneidungszeremonie gibt es keine festgelegten Regeln. Die Kinder werden
meist kurz vor dem Schulalter oder in den Grundschuljahren, also vor der
Pubertät, dieser Zeremonie unterworfen. Allerdings entscheiden sich
zunehmend mehr Eltern in den größeren Städten dazu, die Beschneidung sofort
nach der Geburt im Krankenhaus durchzuführen. Diese frühe Beschneidung hat
vorwiegend das Ziel, das Kind nicht den bewussten Schmerzen und Ängsten
auszusetzen. Diese Form der frühen Beschneidung ist in traditionellen
Gesellschaftsschichten nicht anzutreffen.
Innerhalb der Gesellschaftsstruktur übernimmt die Beschneidung
verschiedenste Funktionen. Eine prachtvolle Beschneidungszeremonie hebt
nicht nur das Ansehen der Familie in der ihr angehörigen Gruppe sondern
erlebt gleichzeitig auch die Freude am Kind. In Anatolien wird es als
Pflicht der Eltern angesehen, das Kind großzuziehen, die Beschneidung
durchzuführen und es zu Verehelichen.
Die Beschneidung von armen oder Waisenkindern wird von wohlhabenden Personen
oder Verwandten übernommen, die deren Beschneidung mit der der eigenen
Kinder gemeinsam durchführen. Diese Aufgabe wird auch von manchen
Sozialvereinen übernommen.
Als Zeit der Beschneidung wird häufig der Frühling, der Sommer oder der
Herbst gewählt. Für die zeremonielle Beschneidungsfeierlichkeiten (Hochzeit)
wird heutzutage vor allem in den Städten das Wochenende, also Samstag oder
Sonntag, gewählt. In der Vergangenheit war dies meist der Donnerstag, da der
Freitag als Feiertag und als Glücksbringer angesehen wurde.
Vorbereitung der Zeremonie oder so genannten “Beschneidungs-Hochzeit”
Wenn das Alter der Beschneidung für das Kind gekommen ist und je nach
ökonomischer Situation beginnt die Familie ungefähr zwei Monate vor der
Beschneidung mit den Vorbereitungen. Nachdem der Zeitpunkt für die Zeremonie
bestimmt wurde, werden die Gäste eine Woche oder zehn Tage vor dem Termin
eingeladen.
Diese Einladung erfolgt auf zwei Wegen:
- persönliche Überbringung der Einladung durch einen so genannten
Beauftragten
- Verteilung gedruckter Einladungen.
Besonders in traditionellen Gesellschaftsschichten ist man darauf bedacht,
viele Personen zu dieser Zeremonie einzuladen.
Vorbereitung des Kindes
Mit der eigentlichen Vorbereitung des Kindes beginnt man einige Tage vor der
Beschneidungszeremonie. Allerdings wird das Kind schon sehr viel früher auf
dieses Ereignis vorbereitet, indem die Freude auf dieses Ereignis gesteigert
wird und ihm die Angst genommen wird. Mit traditionellen Erziehungsmethoden
bereiten die Eltern das Kind bereits Monate vor dem Ereignis auf diesen
Wendepunkt des Lebens vor.
Den wichtigsten Teil der Vorbereitung stellt die Anfertigung der speziellen
Bekleidung des Kindes dar. In den Städten werden die Kinder von wohlhabenden
Familien mit Edelsteinen geschmückt, in den Kleinstädten bildet eine
hellblaue Kopfbedeckung mit einem Talisman (Maşallah) in der Mitte das
wichtigste Element der Bekleidung. In den Dörfern erhalten Kinder für die
Beschneidungszeremonie neue Kleider, an den Schultern und am Hals werden
feine, Reichbestickte Tücher befestigt, am hinteren Teil der Kopfbedeckung
wird eine Art “Brautschleier” angebracht.
Das Kind wird einige Tage vor der Beschneidung oder am Tag der Beschneidung
unterhalten, indem es gemeinsam mit Freunden mit einem Pferd oder Auto
herumspaziert wird. Gleichzeitig wird damit auch die Beschneidung des Kindes
der Umgebung mitgeteilt.
Durchführung der Beschneidung und “Beschneider”
Bei der Beschneidung wird die Vorhaut an der Spitze des Geschlechtes
ringsherum abgeschnitten. Das zu beschneidende Kind wird auf den Schoß des
Vaters oder einer nahe stehenden Person, die man auch als "Kirve" bezeichnet
und der man durch dieses Rituell eine Form von Patenschaft überträgt,
gesetzt. Die Beine des Kindes werden gespreizt, seine Arme werden fest
umklammert. Dabei werden dem Kind gute Worte, die vor allem auf die
Männlichkeit abzielen, zugeredet, um ihm die Angst zu nehmen. Vor und
während der Beschneidung werden die Worte “Allahu ekber Allahu ekber” (Gebetsformel)
ausgesprochen. Eine weitere gebräuchliche Formel ist auch “oldu da bitti
maşallah” (es ist beendet, was Gott gewollt hat; d.h. Ausruf der Bewunderung).
Die Person, die die Beschneidung durchführt, wird im Allgemeinen als
“sünnetçi” (Beschneider) bezeichnet. In Zentralanatolien und Ostanatolien
sind weiteres die Bezeichnungen “abdal” (abdal ist eigentlich Bezeichnung
für wandernde Derwische) oder “kızılbaş abdal” (rothäuptiger Derwisch)
gebräuchlich.
Heutzutage wird die Beschneidung großteils von Beamten des
Gesundheitsministeriums ausgeführt, die sich selbst in städtischen Kreisen
als “fenni sünnetçi” (wissenschaftliche Beschneider) bezeichnen.
Geschenke – Aufmerksamkeiten
Die Beschneidung als wichtiger Wendepunkt im Leben, der zeremoniell gefeiert
wird, wird durch verschiedenste Geschenke bereichert. Diese Geschenke können
Gold, Geld, Bekleidung oder auch häusliche Gegenstände sein. Auch heutzutage
wird die Tradition der Überreichung von Beschneidungsgeschenken weiterhin
ausgeübt.
Sünnet- Patenschaft
Unter “kirvelik” versteht man die Übernahme einer so genannten Patenschaft
bei der Beschneidung des Kindes. Diese Person übt eine bestimmte
Vaterschaftsrolle aus und hält bei der Beschneidung das Kind. Je nach Region
werden dafür auch die Bezeichnungen “kirve”, “kivra” oder “kivre” verwendet.
Kirvelik stellt eine Art künstliche Verwandtschaft zwischen zwei sozial und
ökonomisch gleichgestellten Familien dar, die auch für die Ausgaben der
Beschneidungszeremonie eines Kindes der Familien gemeinsam aufkommen. Der so
genannte “kirve” (Pate) nimmt während der Beschneidung das Kind auf seinen
Schoß, hilft in jeder Hinsicht durch seine Unterstützung bei der Linderung
der Schmerzen und übernimmt, wenn auch nur teilweise, die Kosten der
Zeremonie. Wie Personen bei einer Verehelichung eine Verwandtschaft eingehen,
so verbindet auch die Familien, die sich gegenseitig diese Patenschaft
gewähren, eine freundschaftliche, verwandtschaftsnahe Beziehung. Die
Einrichtung dieser “kirvelik” (Patenschaft) ist vor allem in Ost-, Süd- und
Südostanatolien weit verbreitet, allerdings gibt es nicht genügend
Informationen über deren Wurzeln.
Obwohl die Einrichtung der “kirvelik” vor allem in der Vergangenheit
verstärkt untenstehende Aufgaben erfüllte, so hat sie auch heutzutage nach
wie vor ihre Gültigkeit:
- Intensivierung bestehender Beziehungen
- Vergrößerung des sozialen Beziehungsnetzes der Familie
- Ausübung der Funktion einer Sozialversicherung
- Vereinigung von Familien unterschiedlicher ethnischer Gruppen, Sprachen
und Religion
- Erleichterung der Anpassung an die Region bei Personen, die aus einer
anderen Region kommen
- Erreichung einer gewissen Handelsstärke durch Solidarität und Steigerung
des Potentials
Hinsichtlich dieser Aspekte, die die Einrichtung des “kirvelik” übernimmt,
stellt sie eine wichtige gesellschaftliche Institution dar.
Die durch “kirvelik” entstandene Beziehung hält bis zum Tode an. Es besteht
außerdem ein Heiratsverbot zwischen “kirve” - Kindern, also Kindern, deren
Eltern gegenseitig für ihre Kinder die Funktion des “kirve” übernahmen.
Dieses Verbot unter den “kirve” - Familien führt zu einer freieren und
insofern stärkeren und dauerhafteren Beziehung.
Heiratstraditionen
Die Heirat, als einer der grundlegenden Wendepunkte des Lebens, ist
hinsichtlich der Lebensvereinigung sowohl für die Frau als auch für den Mann
ein individuelles, hinsichtlich der Familien- und Verwandtschafts-
Verbindungen die dadurch eingegangen werden, ein gesellschaftliches Ereignis.
Besonders in kleinen Dorfgemeinschaften übt die Hochzeit die Funktion eines
“Festes” aus, da das gesamte Dorf in die Feierlichkeiten integriert wird.
Die Heirat ist ein Prozess mit verschiedensten Stufen, bei denen Zeremonien
und Feierlichkeiten mit Speis und Trank, Vergnügungen aber auch “ağıt” (Traueroden)
beobachtet werden können.
Die Phasen der Heirat, mit all ihren Zeremonien und Gebräuchen, können
folgendermaßen dargestellt werden:
A. Vor der Hochzeit
I. Brautschau, Anhalten um das Mädchen
II. a. Heiratsvereinbarung
b. Şerbet (Sorbett)
c. Verlobung
III. Hochzeitseinladung
IV. Überbringung der Aussteuer und Ausstellung der Aussteuer
V. Brautbad
B. Hochzeit
I. Henna-Nacht
a. Henna-Nacht der Braut
b. Henna-Nacht des Bräutigams
II. Brautholen
III. Trauung
IV. Brautgemach
V. Nach der Brautnacht
C. Nach der Hochzeit
Nachdem der Entschluss getroffen wurde, zu heiraten, liegt der erste Schritt
in der Wahl der geeigneten Braut für den zukünftigen Bräutigam. Besonders in
traditionellen Gesellschaftsschichten wird die Auswahl der Braut zunächst
von den Eltern des Bräutigams vorgenommen. In letzter Zeit allerdings ist in
dieser Vorgangsweise langsam eine Veränderung zu beobachten. Die jungen
Menschen von heute wählen entweder selbst ihren Partner, den sie auf
unterschiedliche Weise kennen gelernt haben, oder die geeignete Braut wird
durch einen gemeinsamen Beschluss ausgewählt.
In der Heiratsform, die durch so genannte „görücü“ (Brautschauer) zu Stande
kommt, besuchen zuerst die Mutter des zukünftigen Bräutigams und
familiennahe Frauen die Familie des in Betracht kommenden Mädchens. Fand man
Gefallen an dem Mädchen, so wird es dem Bräutigam gezeigt. Findet das
Mädchen auch die Zustimmung des Bräutigams so wird der Entschluss getroffen,
um das Mädchen anzuhalten.
Das Besuchen der Familie des Mädchens und das Bitten des Vaters um die Hand
des Mädchens wird als „dünürlük“, „dünürlüğe gitme“ oder „elçiliğe gitme“ (Anbahnung
eines Verwandtschaftsverhältnisses durch Heirat) bezeichnet. Die im Rang
höher stehenden Frauen und Männer der Familie besuchen an einem vorher
festgelegten Glücksbringenden Tag (meist ist dies ein Donnerstag oder
Sonntag) die Familie des Mädchens, um mit den Worten „Im Auftrag Gottes und
der Zustimmung des Propheten“ um die Hand des Mädchens zu bitten. Da sich
allerdings die Familie des Mädchens im Allgemeinen etwas ziert, wird das
Mädchen beim ersten Besuch nicht gegeben. Erst nach einigen Besuchen und
genügenden Überlegungen seitens der Familie des Mädchens wird der Familie
des zukünftigen Bräutigams eine positive Antwort gegeben. Diese Entscheidung
bedeutet gleichzeitig ein gegenseitiges Versprechen (söz kesmek). Nach
Wunsch der Beteiligten wird manchmal am gleichen Tag der Verlobungsring
angesteckt. Meist wird allerdings eine Verlobungsfeier organisiert, bei der
dieser Vorgang durchgeführt wird. Es ist weit verbreiteter Brauch, dass bei
dem Vorgang des Versprechens ein als „şerbet“ bezeichnetes Getränk angeboten
wird, um die Beziehungen untereinander zu versüßen. Das Trinken dieser
„şerbet“ bedeutet, dass nun das Mädchen tatsächlich gegeben und der
Heiratsbeschluss getroffen wurde. Mit dem „söz kesme“ (Versprechen) werden
gleichzeitig die Verlobungs- und Hochzeitstermine besprochen sowie über zu
kaufende Haushalts- oder Einrichtungsgegenstände oder das so genannte
„başlık parası“ (Geld, das von der Familie des Bräutigams für das Mädchen
bezahlt werden soll) verhandelt.
Nachdem beide Seiten ihre Vorbereitungen beendet haben, wird im Hause des
Mädchens die Verlobungszeremonie, an der vorwiegend Frauen teilnehmen,
durchgeführt. Die Familie des Bräutigams steckt der Braut verschiedenste
Schmuckstücke an und überreicht die übrigen Geschenke. Im Gegenzug dazu,
werden auch von der Familie des Mädchens Geschenke übergeben. Die
Verlobungszeremonie kann nach Wunsch auch mit einem Essen verbunden werden.
Mit Vergnügungen und Unterhaltungen wird dieses erfreuliche Ereignis
gefeiert. Die Verlobung stellt den ersten Schritt zur Verehelichung dar,
ermöglicht der Frau und dem Mann ein näheres Kennen lernen und ist
gleichzeitig der Beginn der Zeitperiode bis zur Hochzeit. Sollte es zu
Verständigungsschwierigkeiten oder Problemen während dieser Periode kommen,
so kann die Verlobung aufgelöst werden. Allerdings wird eine Auflösung der
Verlobung in den seltensten Fällen bevorzugt.
Nun kommt die Phase der Hochzeit näher. Zunächst muss das nähere Umfeld zur
Hochzeit geladen werden. Bei diesem Brauch, der seine Bedeutung in jüngster
Zeit zunehmend verliert, wird an die Familien im Dorf eine so genannte
„okuntu“, eine Art Hochzeitseinladung, verteilt. Für die Aufgabe der
Überbringung dieser Einladung wird eine geeignete Person ausgewählt und mit
der persönlichen Verteilung durch Hausbesuche der Dorfbewohner beauftragt.
Als Einladung wird das „okuntu“ überreicht, das eigentlich ein kleines
Geschenk darstellt. Das „okuntu“ kann zum Beispiel ein Stück Stoff, ein
Taschentuch, ein Kopftuch oder Ähnliches, aber auch Lebensmittel wie Zucker,
„börek“ (Art Strudel) etc. sein.
Wenn auch in Märchen von vierzig Tagen und vierzig Nächten währenden
Hochzeiten erzählt wird, so dauern die Hochzeiten in Anatolien meist drei
Tage an. In jüngster Vergangenheit wird allerdings das Wochenende bevorzugt
und die Hochzeiten dauern häufig zwei Tage, was vorwiegend aus ökonomischen
und sozialen Gründen bevorzugt wird.
Die Hochzeit als Hauptereignis des Heiratsprozesses kann in zwei Abschnitte
eingeteilt werden:
a. Die Henna-Nacht
b. Das Abholen der Braut
Am Vorabend der Hochzeit wird im Hause der Braut eine so genannte „kına
gecesi“ (Henna-Nacht) inszeniert. Diese Zeremonie kann auch auf Seiten des
Mannes durchgeführt werden, aber meist findet sie unter ausschließlicher
Teilnahme von Frauen im Hause der Braut statt, wo diese Zeremonie eine sehr
detaillierte Form annehmen kann.
An dem Tag an dem die Zeremonie der Henna-Nacht durchgeführt wird, wird in
den frühen Morgenstunden am Dach des Hauses des Bräutigams eine Fahne
gehisst. Diese Fahne wird von gewählten Fahnenträgern in einer großen Gruppe
und in Begleitung von Vergnügungen angebracht. In manchen Regionen wird
während dieser fröhlichen Zeremonie den Teilnehmern ein so genanntes „bayrak
ekmeği“ (Fahnen-Essen) angeboten. Das Hissen der Fahne bedeutet den
offiziellen Beginn der Hochzeit.
Am Tag der Henna-Nacht oder auch einige Tage zuvor wird die Aussteuer des
Mädchens in das Haus des Bräutigams gebracht und dort das so genannte „gelin
odası“ (Brautgemach) vorbereitet. Die Aussteuer der Braut wird manchmal
einige Tage vor der Hochzeit im Haus der Braut den Besuchern zur
Besichtigung gezeigt, manchmal auch im Hause des Bräutigams am Tag der
Hochzeit oder danach. Brauch während dieses Aussteuer-Holens ist es, dass
sich eine Person auf die Truhe, in der sich die Aussteuer befindet, setzt
und Geld verlangt. In den frühen Stunden der Henna-Nacht bringt eine
vergnügliche Gruppe von Frauen das in dieser Nacht aufzustreichende Henna,
die Bekleidung der Braut und die den Besuchern anzubietenden Speisen in das
Haus der Braut.
In der Henna-Nacht vergnügt sich eine Gruppe von Frauen im Hause der Braut,
danach werden Volkslieder angestimmt, die die Braut zum Weinen bringen
sollen. Das zuvor angerührte Henna wird auf einem mit Kerzen verzierten
Tablett in den Raum gebracht. In manchen Regionen ist es üblich, dass
nachdem der Braut das Henna aufgetragen wurde, das Henna an die anwesenden
Gäste verteilt wird. In anderen Regionen wiederum wird zuerst das Henna an
die anwesenden Gäste verteilt und nachdem diese nach Hause gegangen sind,
wird erst das Henna der Braut aufgetragen. Je nach Wunsch wird der Braut das
Henna auf die Hände, Füße und Haare aufgetragen. Im Allgemeinen wird eine so
genannte „başı bütün“ (Frau mit ganzem Kopf), also eine Frau, die eine
glückliche Ehe führt, mit dem Anrühren des Hennas, der Verteilung und dem
Auftragen an der Braut beauftragt. Während diese Frau das Henna in eine Hand
der Braut streicht, wird die andere Hand der Braut von einem jungen Mädchen
bestrichen. Bevor das Henna aufgetragen wird, legt man auf die Handfläche
der Braut eine Geld- oder Goldmünze.
Der folgende Tag der Henna-Nacht ist gleichzeitig Tag des Brautholens und
der eigentlichen Hochzeit. Beide Familien bieten den Gästen Speisen an und
in Begleitung von „davul“ (Pauke) und „zurna“ (türk. Oboe) vergnügen sich
die Geladenen. In den frühen Stunden des Tages, an dem die Braut geholt wird,
werden für den Bräutigam einige Zeremonien in dessen Haus durchgeführt, wie
„damat tıraşı“ (Bräutigams-Rasur) oder „güvey giydirme“ (Ankleiden des
Bräutigams). Dagegen wird im Hause des Mädchens die Braut vorbereitet. Dafür
werden im Allgemeinen Frauen beauftragt, die auf allen Hochzeiten des Dorfes
diese Funktion ausüben und auch das Hochzeitsessen vorbereiten. Seitens des
Bräutigams wird eine Gruppe gebildet und das Haus der Braut besucht, um
diese abzuholen. Beim Verlassen des Hauses wird der Braut vom Bruder oder
von einem Onkel ein so genannter „gayret kemeri“, ein rotes Band um die
Taille gebunden. Nachdem sich die Braut von ihrer Familie verabschiedet hat,
wird sie unter Bittgebeten, religiösen Gesängen, manchmal auch in Begleitung
von „davul“ und „zurna“ aus dem Haus geführt. Während des Verlassens des
Hauses werden auch für die zurückgebliebenen unverheirateten Geschwister
einige Bräuche durchgeführt. Zum Beispiel wird ein noch nicht fertig
gestrickter Strumpf aufgetrennt, damit die ledigen Mädchen auch so schnell
heiraten, wie ein Strumpf aufgetrennt wird. ...
Beim Austreten aus dem Haus des Brautvaters sowie beim Eintreten in das Haus
des Bräutigams werden einige religiöse Beschwörungen durchgeführt, um dem
jungen Paar Glück auf dem Weg mitzugeben. Zum Beispiel wird beim Austreten
der Braut hinter ihrem Rücken ein Spiegel gehalten, der ein Symbol für ein
glückliches, klares Leben darstellt. Tritt die Braut in das Haus des
Bräutigams, so wird an die Türschwelle Öl, Honig oder Ähnliches gestrichen,
um zu gewährleisten, dass die Braut mit den Bewohnern dieses Hauses ein
gutes Auskommen findet.
Über das Haupt der Braut werden Bonbons, Geldmünzen, getrocknete Nüsse und
Früchte oder Ähnliches gestreut, was ihr Segen und Wohlstand bringen soll.
Am Abend des Hochzeitstages wird den wenigen zurückgebliebenen Gästen Essen
angeboten und die so genannte „imam nikahı“ (religiöse Hochzeit nach Glauben
des Islam) durchgeführt. Früher wurde die standesamtliche Heirat zu einem
beliebigen Termin nach dieser Hochzeit durchgeführt, allerdings wird
heutzutage sehr viel Wert darauf gelegt, dass die standesamtliche Heirat vor
der traditionellen Hochzeit geschlossen wird. Diese standesamtliche Trauung
wird im Allgemeinen dann durchgeführt, wenn die beiden Familien des
Brautpaares für die Hochzeits-Einkäufe zusammen kommen.
Nachdem der Bund der Ehe durch den „Imam“ (Geistlicher) geschlossen wurde
und entsprechende Gebete gesprochen wurden, werden die Braut und der
Bräutigam in das entsprechende Brautgemach geführt. Gleichzeitig werden
wiederum religiöse mythische Handlungen durchgeführt, um eine harmonische
Verbindung des Paares zu gewährleisten. Ein Beispiel dafür ist das
Hineinstoßen eines Messers der Tür oder das Öffnen eines an der Tür
angebrachten Schlosses. Von der Familie des Mädchens vorbereitete Speisen
werden zuvor auf das Zimmer gebracht. In manchen Regionen wird dabei nur
eine Gabel oder ein Löffel beigelegt, damit sich das junge Paar durch das
gemeinsame Essen schneller annähern kann.
In dieser Stufe der Heirat kommt auch der Brauch des „çarşafa bakma“ (auf
das Leintuch schauen) auf die Tagesordnung, um zu sehen, ob die Braut noch
rein und unschuldig war. Eine auf der Hochzeit eingesetzte verwandte Frau
oder eine der beauftragten Köchinnen vergewissert sich über die Situation
und informiert beide Familien. Sollte sich herausstellen, dass die Braut
keine Jungfrau mehr ist, kann diese wieder in das Haus des Vaters
zurückgeschickt werden.
Am Folgetag der Hochzeit werden unter der Bezeichnung wie „duvak günü“ (Tag
des Brautschleiers), „yüz açımı“ (Öffnen des Gesichtes) oder „baş bağlama“ (Bedecken
des Kopfes) verschiedenste vergnügliche Bräuche durchgeführt. Diese finden
in einfacher Form und nur unter Anwesenheit von Frauen statt. In der
Vergangenheit wurde die Braut am „duvak günü“ zum Brunnen gebracht, von dem
sie Wasser holen sollte. Außerdem musste sie einen Teig anfertigen und so
genannte „börek“ (Teigtaschen, Strudel) backen. Dem Aberglauben zufolge
sollten diese Handlungen Wohlstand und Segen bringen. Allerdings sind diese
Gebräuche in der Gegenwart in Vergessenheit geraten. Die Vergnüglichkeiten
am „duvak günü“ werden kaum mehr durchgeführt.
Militärdienst- In Der Fremde
In unserer Gesellschaft hat der Militärdienst eine Tiefverwurzelte
Vergangenheit und wird deshalb als eine Art „heiliger Dienst“ bewertet. Als
Soldat wird man einer ehrenhaften und tugendhaften Person gleichgesetzt.
Besonders in ländlichen Gebieten wird eine Person, die ihren Militärdienst
nicht abgeleistet hat, nicht positiv bewertet, seine Äußerungen werden nicht
ernst genommen.
Der Beginn und das Ende dieser als ehrenhafter Dienst an das Vaterland
gewerteter Lebensphase wird in der Gesellschaft mit unterschiedlichen
Zeremonien begleitet. Die Abschieds- und Willkommenszeremonien weisen
regionale Unterschiede auf.
Ein der in allen Regionen anzutreffender Brauch diesbezüglich ist, dass der
junge Mann, dessen Ladung zum Militärdienst eingetroffen ist, von den
Verwandten und Freunden der Reihe nach zum Essen eingeladen wird. Zu diesem
Essen kann sowohl der zukünftige Soldat alleine als auch gemeinsam mit
seiner Familie eingeladen werden. Häufig wird während des Essens oder danach
ein Unterhaltungsprogramm geboten.
Im Gebiet Kars besucht der zukünftige Soldat seine Verwandten in den Dörfern
und der Stadt zur Verabschiedung. Bei diesen Besuchen bekommt er Geld und
eine Wegzehrung (vorwiegend çörek = spezielles Gebäck mit wenig Fett, mit
oder ohne Zucker) zugesteckt.
Im Dorf Kırtıl bei Silifke lädt der zukünftige Soldat am Tag seiner
Einrückung seine männlichen und weiblichen Freunde zu sich nach Hause ein,
wo bis in die späten Abendstunden gefeiert und "mengi“ (eine Art Zeybek-
Tanz) getanzt wird. Dem zukünftigen Soldaten wird Geld zugesteckt, dass als
„uğur parası“ (Geleit-Geld) bezeichnet wird.
Im Dorf Verimli in Kızılcahamam bei Ankara überreichen alte Frauen und
Männer dem zukünftigen Soldaten „uğur parası“ (Geleit-Geld) mit den Worten
"Benim için nöbet tut, buna karşılık“ (Halte für mich Wache und nimm dies
als Gegenleistung) und erfreuen somit das Herz des Jungen.
In Seydişehir werden die für die Verabschiedungszeremonie von den Frauen
vorbereiteten "çöreks“ (Gebäck mit wenig Fett, mit oder ohne Zucker) in drei
Teile geteilt. Ein Teil davon wird als Futter für Vögel und Würmer ins
Wasser geworfen. Ein Teil wird in ein Hemd des Jungen gewickelt und in einem
"sandık“ (Truhe zur Aufbewahrung von verschiedenen Dingen, Kleidung etc.)
versteckt. Der dritte Teil wird dem zukünftigen Soldaten als Wegzehrung
mitgegeben.
Bei jedem seiner Besuche oder Urlauben vom Militärdienst wird ein Stück des
im sandık aufbewahrten çöreks abgebrochen und dem Soldaten zum Essen
gereicht. Nachdem der zukünftige Soldat verabschiedet worden ist, versammeln
sich die Frauen an einer Quelle zum Essen. Während dieses Essens dürfen
keine Holzlöffel verwendet werden, da man daran glaubt, dass wenn man
Holzlöffel verwendet, der Junge in seiner Militärzeit viel Prügel erhält.
Im Dorf Şükranlı bei Seyitgazi / Eskişehir muss der zum Militär Einberufene,
wenn er verlobt ist, das Brennholz für das Haus der Verlobten schneiden,
bevor er seinen Dienst antritt, um sich an schwere Arbeiten und
Schwierigkeiten zu gewöhnen.
Neben diesen Geleit- oder Abschiedszeremonien gibt es allerdings ebenso
viele und unterschiedliche Willkommenszeremonien für den Soldaten, der seine
Militärzeit beendet hat.
Im Dorf Kırtıl bei Silifke zum Beispiel ist es Brauch, dass der Soldat nach
seiner Demobilisierung Henna mitbringt. Am Abend seiner Rückkehr in das Dorf
trägt er den Gästen, die ihn Willkommen heißen das zubereitete Henna auf.
Das Auftragen dieses Hennas, das als "asker kınası“ (Soldatenhenna)
bezeichnet wird, gilt als Glück bringend.
Eines der Themen bezüglich des Soldatentums sind die geschriebenen Briefe
der Soldaten, die voller Sehnsuchtsgefühle sind. Im Allgemeinen befinden
sich in diesen Briefen Grüße, Erzählungen über die Situation und enden mit
einem „mani“ (volkstümliches Gedicht). In den Briefen werden alle Verwandten
und Bekannten gegrüßt. In manchen Briefen, besonders in Zeiten, als das
Kommunikationssystem noch nicht so ausgebaut war und sich hauptsächlich auf
Briefe konzentrierte, ist erkennbar, dass der Soldat damit rechnen musste,
dass der Brief auch von anderen Personen gelesen werden würde. Da somit
nicht immer Gefühle offen ausgedrückt werden konnten, wenn zum Beispiel ein
Soldat seiner Frau schrieb, die bei dem Vater des Soldaten wohnte,
verwendete man kodierte „mani“.
„Yürü mektubum yürü
Haberini al da gel
Bir iken iki olduk
Üç olduk mu sor da gel“
Laufe mein Brief laufe
Informiere dich und bring mir die Nachricht
Ich war eins (unverheiratet) und wir wurden zwei (verheiratet)
Frag, ob wir schon drei (ein Kind) geworden sind und komm zurück.
In diesem „mani“ wird in versteckter Weise gefragt, ob die Frau ein Kind
erwartet oder nicht.
Neben den Briefen, die über die Situation berichten, gibt es auch
Soldatenbriefe, die voller Humor sind. Diese Briefe sind vorwiegend an
Freunde gerichtet.
Die Rückkehr eines Soldaten ist immer ein erfreuliches Ereignis und wird mit
viel Unterhaltung gefeiert. Es werden Verwandte und Freunde besucht, bei
denen man zehn bis fünfzehn Tage als deren Gast verweilt, wobei dem
zurückgekehrten Soldaten keine Arbeit aufgetragen wird. In manchen Gebieten
werden dem jungen Mann bei diesen Besuchen auch Geschenke überreicht.
Bräuche und Glaubensauffassungen in Anatolien bezüglich des Todes
Das gesellschaftliche Leben ist auf
vielen Gebieten durch verschiedene Glaubensauffassungen, Sitten und
Gebräuche, Zeremonien, religiöse Feiern und festgelegte Verhaltensweisen
geformt. In den kleinen Niederlassungseinheiten, in denen Sitten und
Gebräuche sowie Glaubensauffassungen stärker ausgeprägt sind, ist auch der
Tod als einer der wichtigsten Wendepunkte des Lebens, ein Bereich, der durch
starke gesellschaftliche Unterstützung und Solidarität gekennzeichnet ist.
Dem Tod, der als „Sterben des Körpers und Weiterleben der Seele“ bewertet
wird, wird häufig mit Angst begegnet. Mit dieser Angst, die im
Unterbewusstsein Druck ausübt, wurden verschiedenste Ereignisse und
Verhaltensweisen als Vorboten des Todes bewertet. Diese sind zum Beispiel:
ungewöhnliche Verhaltensweisen, meteorologische Ereignisse (Sternschnuppen,
Donner, Sturm etc.), Bewegungen und Stimmen der Tiere (Geheule des Hundes,
Rufe der Eule, Krähen des Hahnes außerhalb der Zeit etc.), Erscheinungen im
Traume (Sarg, Brautkleid, Hochzeit, Kamel, Zusammensturz des Hauses, Ausfall
eines Zahnes, Zwiebel, Paprika, etc.), auf Gegenständen bezogene
Vorkommnisse (verkehrte Hinstellen der Schuhe, das offene Liegenbleiben der
Schere, das Knirschen des Hausdaches etc.), auf ein Begräbnis bezogene
Situationen (die schiefe Stellung des Halses, klebriger Zustand des
Fleisches etc.), physiologische und psychologische Veränderungen des Kranken
(Verlust der Gesichtsfarbe, Appetitverlust oder Appetitsteigerung, starrer
Blick, etc.).
Ereignissen, von denen man annimmt, dass sie zum Tode führen, begegnet man
mit Vorsichtsmaßnahmen und bestimmten Praktiken. So kann dies zum Beispiel
das Schlachten des Hahnes, der außerhalb der Zeit krähte, sein; oder nach
schlimmen Träumen das Verteilen von im Hause zubereiteten oder gekauften
Speisen an Arme, um Segen zu erhalten; das Erzählen des Traumes vor
fließendem Wasser; das Aufwecken von schlafenden Kleinkindern und
schwangeren Frauen, wenn die Leiche aus dem Haus befördert wird; das
Entleeren der Wasserbehälter im Hause des Verstorbenen; das Fegen des Hauses,
nachdem die Leiche entfernt wurde; das Umdrehen des Topfes, in dem das
Putzwasser gekocht wurde und andere Praktiken.
In der Sterbephase wird versucht, der sterbenden Person das Wegscheiden zu
erleichtern. Darum wird ihm der Kopfpolster weggenommen, Wasser in den Mund
geflößt, neben ihm nicht laut geweint und entfernt lebende Nahestehende
gerufen. Können diese nicht rechtzeitig kommen, so werden ihnen gehörige
Gegenstände oder Fotografien aufgestellt, ein Geistlicher wird gerufen, um
aus dem Koran zu lesen.
Wenn die Person gestorben ist, so wird die Leiche auf eine als „rahat
döşeği“ (bequeme Matratze) bezeichnete am Boden liegende Matratze gelegt.
Das Kinn sowie die Füße (die beiden großen Zehen) werden hochgebunden.
Sollte die Person in der Nacht verstorben sein und ein entfernt wohnender
Nahestehende anreisen sollte, so wird die Ankunft dessen abgewartet. Diese
Wartezeit darf 14 – 15 Stunden nicht überschreiten (Sollte die Person am
Abend verstorben sein, so wartet man bis zum Mittag des nächsten Tages;
Sollte die Person am Morgen verstorben sein, so wird bis zum
Nachmittagsgebet gewartet;). In dieser Wartezeit wird auf die Leiche ein
Eisenteil gelegt, um das Anschwellen des Körpers zu verhindern. Die Leiche
wird während der Zeit des Wartens nicht alleine gelassen. Die Nachricht des
Todes wird mit einem Gebetsruf von der Moschee aus verbreitet. Danach werden
Praktiken ausgeübt, die den Weg des Toten in die andere Welt erleichtern
sollen. Gleichzeitig stellen diese Praktiken einen Schutz der
Hinterbliebenen vor möglichen schlimmen Einflüssen des Todes dar.
Die Vorbereitungen für die Sendung des Toten in die andere Welt beginnen mit
dem Waschen der Leiche nach bestimmten Regeln und dem Einhüllen in das
Leichentuch. Weibliche Leichen werden von Frauen, männliche von Männern
gewaschen. Diese sind im Allgemeinen Personen, die in dieser Tätigkeit geübt
und erfahren sind. In Dörfern erfolgt diese Waschung im Haus oder im Garten
auf einem niedrigen Holzgestell, wobei nur wenige Personen anwesend sind. In
manchen Regionen verabschieden sich die Nahestehenden vom Toten nach der
Waschung, indem sie ein Schüsselchen Wasser über die Leiche gießen. Dies
bedeutet Verabschiedung und Verzeihung. In großen Städten erfolgt das
Waschen der Leiche in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen (Leichenwaschungshalle).
Als Leichentuch wird ein weißer Stoff verwendet. In das Leichentuch einer
Frau können Henna (Henna wird auch häufig vor der Waschung, während der
Wartezeit, in die Hände gestrichen), Rosenwasser, Schwarzkümmel u. ä. gelegt
werden. Während des Wartens oder während der Einhüllung in das Leichentuch
können Räucherstäbchen angezündet werden, um schlechte Gerüche zu verhindern.
Nach der Einwickelung in das Leichentuch wird die Leiche in einen Sarg
gelegt und an den Ort gebracht, an dem die Totengebete verrichtet werden.
Die Totengebete können am Friedhof oder in der Moschee gelesen werden.
Frauen nehmen im Allgemeinen an diesem Gebet nicht teil.
Nach dem Gebet wird der Sarg auf den Friedhof gebracht. Das Grab wird zuvor
vorbereitet. Im Allgemeinen werden die Gräber für Frauen tiefer ausgehoben,
als jene der Männer. In Anatolien, das vielen Zivilisationen als Lebensraum
diente, wurden bei archäologischen Ausgrabungen unterschiedliche
Begrabungsformen entdeckt, z. B. Beerdigung in Tongefäßen, Holzsarkophagen,
Grabkammern mit unterschiedlichen Unterteilungen, in Grabhügeln oder auch
Beerdigung von mumisierten Leichen etc. Heutzutage ist die gebräuchlichste
Beerdigungsform jene, in der das Grab ein einer geraden Form ausgehoben wird
und die Leiche in eine eigens gegrabene Aushöhlung gelegt wird. Diese wird
mit Holzstücken, Luftziegeln oder Ziegeln abgedeckt und mit Erde geschlossen.
Die Leiche wird generell ohne Sarg in das Grab gelegt. Mit der Beendigung
der Beerdigung werden von einem Geistlichen oder einer wissenden Person
Gebete gelesen, die als so genannte „telkin“ bezeichnet werden. Dies ist ein
Vorsprechen der islamischen Glaubensartikel durch den Geistlichen nach der
Bestattung eines Toten, damit dem Verstorbenen auf dem Weg in die andere
Welt Hilfe geleistet wird und dieser den ihn verhörenden Engeln antworten
kann. Bevor der Grabstein verlegt wird, wird das Festsetzen der Erde
abgewartet. Dies dauert ungefähr ein Jahr. Meist wird nur am Grabkopf und am
Fuße des Grabes oder auch nur am Grabkopf ein Grabstein angelegt. Diese
werden aus Holz, Stein, Beton oder auch – besonders in letzter Zeit – aus
Marmor angefertigt. Die Gräber befinden sich – sowohl in Dörfern als auch in
größeren Niederlassungsgebieten – auf gemeinsam verwendeten Friedhöfen,
allerdings trifft man auch auf Gräber, die innerhalb eines
Familiengrundstückes angelegt sind. Auf manchen Friedhöfen großer Städte
befinden sich eigene Abteilungen für Familien. Auf das Grab werden Blumen
gepflanzt und ein Wasserbehälter gestellt. An den Grabkopf werden
verschiedenste Bäume gepflanzt (Nadelbaum, Weide, Maulbeerbaum, Pappel
etc.). Der Grabstein wird mit Verzierungen ausgeschmückt und mit dem Namen
des Verstorbenen, dem Geburts- und Todesdatum versehen. Man trifft auch auf
Grabsteine, die mit literarischen Worten ausgeschmückt sind. Die Grabsteine
stellen gleichzeitig wichtige historische Dokumente dar, indem sie Hinweise
auf die vergangenen Perioden liefern. Auf das Grab darf man nicht mit Füßen
treten und es wird darauf geachtet, dass keine Tiere in den Friedhof kommen.
In Großstädten werden die Tätigkeiten bezüglich der Beerdigung – von der
Todesanzeige bis hin zur Beerdigung – von eigenen Einrichtungen übernommen.
Nach der Beerdigung wird den Hinterbliebenen zum Trost Beileid
ausgesprochen. Dies kann sowohl am Grab als auch bei einem Besuch zu Hause
geschehen. Diese Phase des Beileidsausspruches dauert gewöhnlich einige
Zeit. In Dörfern wird in dem Hause des Verstorbenen meist die ersten zwei
bis drei Tage kein Essen gekocht. Das Essen wird von den Nachbarn in das
Haus gebracht. Um dem Toten zu gedenken werden am dritten, siebten,
vierzigsten, zweiundfünfzigsten Tag und am Jahrestag religiöse Zeremonien,
an denen auch Speisen verteilt werden, abgehalten. Man glaubt, dass es an
diesen Tagen zu Veränderungen der Leiche kommt, wobei angenommen wird, dass
sich am vierzigsten oder zweiundfünfzigsten Tag das Fleisch von den Knochen
löst. Die an diesen Tagen abgehaltenen Zeremonien dienen dazu, die Schmerzen
des Toten zu lindern. Auf der anderen Seite wird auch daran geglaubt, dass
durch die Besuche der Tote zufrieden gestellt wird und damit mögliche
negative Einflüsse des Toten auf die Hinterbliebenen verhindert werden
können. Der Geruch der an diesen speziellen Tagen (dritte, siebte,
vierzigste Tag nach dem Tode, Festtage, Donnerstage etc.) zubereiteten und
verteilten Speisen, insbesondere des „helva“ (best. Süßspeise) soll vom
Toten wahrgenommen werden.
Eine weitere Praktik, die dem Verstorbenen in der anderen Welt
Bequemlichkeit und Behaglichkeit gewähren soll, zielt auf die Tilgung seiner
Schulden ab und wird mit unterschiedlichen Namen bezeichnet: „devir“,
„ıskat“, „kefaret“, „dardan indirme“ etc. Trotz dieser unterschiedlichen
Bezeichnungen erfüllen sie dieselbe Aufgabe:
Während einige persönliche Gegenstände (Kleider, Schuhe etc.) als Erinnerung
aufbewahrt werden, werden die restlichen Gegenstände an Arme verteilt.
Gegenstände, die niemand nimmt oder nicht mehr verwendbar sind, werden
verbrannt.
Sollte an dem Ort, an dem es ein Begräbnis gibt, gleichzeitig auch eine
Hochzeit stattfinden, so werden „davul“ (Pauke) und „zurna“ (türk. Oboe)
nicht eingesetzt. Auch später wird bei den Nahestehenden des Verstorbenen um
Erlaubnis gefragt. Dies gilt natürlich nicht für die größeren Städte,
sondern für kleinere Niederlassungen und Gemeinschaften wie Dörfer etc.
Der Schmerz und die Trauer aufgrund des Verlustes eines Menschen wird in
gesellschaftlichen Formen ausgelebt und als „yas“ (Trauer) bezeichnet. Die
Verwandten und Nahestehenden des Verstorbenen begeben sich für einen
bestimmten Zeitraum (40 Tage bis 1 – 2 Jahre) nicht auf vergnügliche
Zusammenkünfte und tragen auch keine neuen Kleider. In manchen Regionen
rasieren sich die Männer für 1 – 2 Wochen nicht. Für den Toten werden
Traueroden angestimmt. Sollte der Verstorbene jung gewesen sein, so dauert
diese Trauerperiode noch etwas länger.
Es wird daran geglaubt, dass die Seele des Verstorbenen überall herum
wandere und manchmal auch das Haus der Hinterbliebenen besuche. Sollte in
diesem Haus etwas in Erinnerung an ihn getan werden, so würde die Seele das
Haus wieder zufrieden verlassen, wenn nicht, würde sie das Haus in Trauer
verlassen. Grabbesuche werden vorwiegend an Feiertagen und an den Vorabenden
dieser durchgeführt. Bei diesen Besuchen werden am Grab Gebete verrichtet,
Kerzen oder Räucherstäbchen angezündet, Geld, Süßigkeiten oder von zu Hause
mitgebrachte Speisen verteilt.
In dieser Welt, in der rasche Veränderungen und wichtige technische
Entwicklungen erlebt werden, ist es Tatsache, dass der Tod das
Unausweichbahre Ende des Menschen darstellt. Die Sitten und Gebräuche sowie
Praktiken, die in der Gesellschaft den Tod begleiten, haben vor allem
vorwiegend die Funktion, dieses unausweichliche Ende leichter akzeptieren zu
können.




